Die Frage nach meiner Identität
Von Maria Schmidt*
„Hey, du sprichst doch argentinisches Spanisch. Kommst du aus Argentinien?“ „Ja, aber ich bin in Deutschland aufgewachsen. Ich bin Deutsch-Argentinierin.“ „Du? Deutsche? Neee, das glaube ich dir nicht.“
„Das ist aber so…“
„Aber du wirkst gar nicht Deutsch! Du schaust auch gar nicht so aus!“
„Aber ich bin Deutsche.“
„Neee, gib zu, du bist doch Argentinierin.“
„Ja, auch! Aber auch Deutsche!“
So lief 2022 ein Gespräch in einem spanischen Club ab. Ich war damals während meines Erasmus-Austauschs dort. Während meines Aufenthalts führte ich häufiger solche scheinbar sinnlosen Diskussionen. Doch woher kam diese Verwirrung?
Ich bin in Argentinien geboren. Das macht mich zur Argentinierin. Mein Vater ist deutscher Staatsbürger. Dadurch bin ich auch Deutsche. Bei meiner Geburt erhielt ich also zwei Staatsbürgerschaften. Für die deutsche Regierung war das bis vor Kurzem noch ein Problem. Nur in wenigen Ausnahmen durften Personen ihre beiden Nationalitäten behalten, ohne sich zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine entscheiden zu müssen. Ich bin so eine Ausnahme.
Doch nicht nur die Regierung stellt meine nationale Identität infrage. Wenn andere Personen erfahren, dass ich Deutsch-Argentinierin bin, führt das schnell zu Verwirrung und Verwunderung. Viele haben das Bedürfnis, mich in eine Schublade zu stecken. Und irgendwo ist das auch verständlich. Wir Menschen schaffen Kategorien, um die Welt um uns herum zu ordnen. Sie helfen uns, Personen oder Situationen einschätzen zu können, denn sie sind in der Regel mit Erwartungen verbunden. Die Zugehörigkeit zu einer Nation macht schließlich nicht nur ein geteiltes Territorium und eine geteilte Sprache, sondern auch eine gemeinsame Kultur im Sinne von Wertvorstellungen aus. Dabei spielen auch Klischees und Stereotype eine Rolle.
Gleichzeitig “zurückhaltende Deutsche” und “laute Argentinierin”
Jede Kultur wird mit ihr zugeschriebenen Stereotypen verbunden, welche gleichzeitig die Erwartungen an eine Person formulieren. So gelten Deutsche häufig als zurückhaltend, verantwortungsvoll und pünktlich, während Argentinier:innen als laut, leidenschaftlich und attraktiv beschrieben werden. Dieses Zuschreiben von Persönlichkeitsmerkmalen aufgrund der nationalen Zugehörigkeit kann zu einer starken Identifizierung mit der eigenen Nationalität führen. Ein bisschen so, wie manche ihr Sternzeichen als essentiellen Teil ihrer Identität betrachten.
Jedoch kann man natürlich immer nur in einem Territorium geboren worden sein, doch man kann mit zwei Sprachen, kulturellen Wertesystemen, Weltanschauungen und sogar Religionen aufwachsen. Ich denke, es ist nicht weit hergeholt, wenn ich annehme, dass die meisten Personen mit doppelter Nationalität schon damit konfrontiert wurden, sich für eine der beiden zu entscheiden.
In Gesprächen mit anderen Personen doppelter Nationalitäten fiel mir auf, dass je größer die Diskrepanz zwischen den Stereotypen ihrer jeweiligen nationalen Zugehörigkeiten ist, desto größer war auch die Verwirrung des Gegenübers. In meinem Fall scheint die Verwirrung recht groß zu sein: Wie kann ein Mensch schließlich gleichzeitig zurückhaltend und leidenschaftlich sein? Zusätzlich fällt mir auf, dass ich je nach Situation von meinem Gegenüber bevorzugt in eine der beiden Kategorien gesteckt werde. So wird mir in einem Club, wie im obigen Beispiel, in der Regel von Männern, oft die deutsche Nationalität zugunsten der attraktiveren Lateinamerikanerin abgesprochen.
Für manche mag das alles banal klingen. Doch womit ich in diesen Situationen konfrontiert werde, ist meine eigene Auseinandersetzung mit meiner Identität. Ich stelle oft fest, wie ich in Gesprächen über meine Nationalität in Erklärungsnot gerate, da ein einfaches: „Ich bin Deutsch-Argentinierin.“ nicht zu reichen scheint. Ich merke auch, dass ich aufmerksamer bin, wenn es darum geht, wie ich mich je nach Situation präsentiere. Ich stelle mir häufig die Frage: „Wie wird die Person reagieren, wenn sie erfährt, dass ich auch Argentinierin bzw. Deutsche bin?“
Was heißt es schon Deutsche oder Argentinierin zu sein?
Wären nicht diese Konfrontationen, würde ich mir diese Fragen vielleicht nie stellen. Ich bin ich, denn was heißt es schon Deutsche oder Argentinierin zu sein? Bin ich nicht argentinisch genug, weil ich dort nicht aufgewachsen bin? Bin ich nicht deutsch genug, weil ich in Argentinien geboren wurde? Es wird immer Leute geben, für die ich „nicht genug“ bin und die mich deshalb ausschließen werden. Und natürlich schmerzt das.
Mit den aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland werde ich mir dessen wieder bewusst. Ich fühle mich Deutsch; ich bin Deutsche. Doch reicht das für jene, die Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft die deutsche wegnehmen und sie abschieben wollen, aus? Und wenn doch, möchte ich dann noch Mitglied einer deutschen Nation sein, in der diese Leute eventuell regieren?
So gesehen schätze ich mich glücklich. Wie der deutsch-uruguayische Musiker Jorge Drexler in seinem Lied „Movimiento“ (Bewegung) singt, bin ich “von nirgendwoher und von überall ein bisschen“. Ich bin eben nicht nur Deutsche. Doch wenn wir es als Gesellschaft nicht schaffen, die rechtsextreme Bewegung in diesem Land zu stoppen und die Demokratie zu schützen, dann denke ich, werden viele Deutsche sich fragen müssen, was es für sie bedeutet „deutsch“ zu sein.
* Name geändert