Von Bianca Bär
Früher war Weihnachten feierlicher. Früher verklebte das Christkind in der Nacht vor Heiligabend die Glastür zwischen unserem Wohnzimmer und dem Flur mit Geschenkpapier, damit meine Schwester und ich nicht sehen konnten, ob der Weihnachtsbaum schon geschmückt war und wie viele Geschenke darunter lagen. Wir konnten nicht wissen, ob Engel an unserem Bürofenster vorbeigeflogen waren, an das wir Wunschzettel mit Tesafilm befestigt hatten. Diese Wunschzettel waren mit Fotos aus dem Spielwarenkatalogen beklebt, damit die Engel auch gleich wussten, wie die Geschenke auszusehen hatten. Erst nach dem Gottesdienst mit Krippenspiel und dem Abendessen entriegelte mein Vater die Schiebetür zwischen Wohn- und Esszimmer und wir stürzten uns auf die Pakete. Wir zerfetzten in Sekundenschnelle das bunte Papier, das das Christkind mit großer Sorgfalt um die Geschenke gewickelt hatte.
Einmal kam mir der böse Verdacht, dass es das Christkind gar nicht gibt und meine Eltern hinter all diesen Geschenken steckten. Ich erinnere mich daran, dass ich weinend auf meinem Bett saß und meine Mutter fragte: „Gibt es das Christkind gar nicht?!“ Sie schaute mich an, ohne zu antworten. Da beschloss ich wohl, dass es noch zu früh war, diese Welt des Zaubers zu verlassen: „Sag´s mir lieber nicht“, bat ich und verbannte den Zweifel am Christkind für ein, zwei weitere Jahre aus meinem Kopf.
Noch ein paar Jahre früher hatte ich geglaubt, an Heiligabend würde ein Chor unsichtbarer Engel in unserem Wohnzimmer singen. Auch mit der Erkenntnis, dass die Töne aus Papas altem Schallplattenspieler kamen, verschwand ein Stück Weihnachtsmagie. Ein weiteres Stück verabschiedete sich mit dem Tod meiner Großeltern. Sie hatten im Erdgeschoss gewohnt und waren immer nach dem Abendessen zu uns in den ersten Stock hochgestiegen. An Heiligabend hatte sie immer so ein Glanz umgeben. Vielleicht lag es daran, dass ich meine Oma normalerweise in ihrer Küchenschürze und meinen Opa in Arbeitskleidung sah. An diesem Abend legten sie aber Wert auf schöne Kleidung. Jedes Jahr sagten sie, sie würden nicht lang bleiben und versanken dann doch wieder in den Polstern unseres Sofas, den Blick auf die Kerzen und den Christbaum vor ihnen gerichtet.
Früher war Weihnachten aber auch dramatischer. Als Kind verglich ich immer die Anzahl der Geschenke, die ich bekommen hatte, mit der meiner Schwester, ohne auf Größe oder finanzielle Kosten – worunter ich mir damals auch eh noch nichts vorstellen konnte – zu achten. Und wehe, meine Schwester hatte mehr Geschenke unter ihrer Seite des Baumes liegen, dann gab´s Ärger. Meine Mutter erzählt auch gerne die Geschichte von dem Weihnachtsfest, an dem meine Schwester und ich einen Kaufladen geschenkt bekamen. Neben den leeren Pappschachteln mit Aufdrucken von Nudel-, Müsli-, Eis- und anderen Marken gehörten auch Eier aus Schaumzucker zum Sortiment. Als meine Schwester anfing, diese aufzuessen, wurde ich sauer – so konnte ich die Eier ja nicht mehr verkaufen. Es endete in einem tränenreichen Weihnachten. Genauso tränenreich war der Abend, an dem ich auf dem aufblasbaren Plastik-Dinosaurier meiner Schwester reiten wollte, obwohl ich, zwei Jahre älter, wohl schon zu schwer dafür war. Dem Dino ging jedenfalls schnell die Luft aus.
Und heute? Heute sind die Tage von Heiligabend bis 6. Januar eine Zeit, in der ich zur Ruhe komme. In der ich nichts muss, außer bei meiner Familie im Wohnzimmer zu sitzen, Punsch zu trinken, Plätzchen zu essen, die immer gleiche Schallplatte mit Weihnachtsliedern in Dauerschleife anzuhören. Vor allem die letzte Dezemberwoche sind Urlaubstage, die ich nirgendwo anders verbringen möchte, als bei meiner Familie, an dem kleinen Ort, in dem ich die ersten 19 Jahre meines Lebens verbracht habe. Tage, an denen ich die warme Geborgenheit der Kindheit suche und daher noch nicht mal Lust habe, abends das Haus zu verlassen, um mit Bekannten „von früher“ feiern zu gehen. Stunden, in denen ich mir die persönlichen Jahresrückblicke durchlese, die früher meine Mutter Jahr für Jahr auf die Schachteln unserer Weihnachtskugeln geschrieben hat. Mittlerweile bin ich diejenige, die aufschreibt, was uns im vergangenen Jahr bewegt hat. Und wenn ich dann aus meiner Weihnachts-Trance aufwache, fühlt sich alles, was mich vor Heiligabend beschäftigt hat, so unglaublich weit weg an. Ich fühle mich wie neugeboren nach einem Winterschlaf. Mit neuer Energie für bevorstehende Herausforderungen und voller Erwartung auf die Ereignisse im neuen Jahr.
1 In vielen Regionen Deutschlands wachsen Kinder in christlich geprägten Familien mit der Vorstellung auf, dass an Weihnachten nicht der Weihnachtsmann Geschenke bringt, sondern eine Symbolfigur namens “Christkind”. Eigentlich steht sie für die biblische Figur Jesus Christus, dessen Geburt in der christlichen Tradition an den Weihnachtstagen – also an Heiligabend sowie am 1. und 2. Weihnachtsfeiertag – gefeiert wird. Auf Weihnachtsmärkten sowie auf Postkarten und Büchern wird das Christkind allerdings selten als Säugling, sondern in der Regel als blonder Engel dargestellt.
2 Der Heilige Abend oder Heiligabend ist der 24.12.